„Hyperlinks sind Augen des Netzes, der Weg zu seiner Seele“ | Hossein Derakhshan

Ein sehr lesenswerter Beitrag von Hossein Derakhshan, der im Iran für sein Engagement ins Gefängnis geworfen wurde. Er beklagt den Niedergang des Webs, wie er es vor seiner Inhaftierung kannte. Einige Kernzitate (was aber nicht vom lesen des gesamten Beitrags ablenken soll):

Sechs Jahre sind eine lange Zeit im Gefängnis, aber online ist es eine ganze Ära. Das Schreiben im Internet hatte sich nicht verändert, aber das Lesen – oder zumindest das Gelesenwerden – umso dramatischer. …

Vor sechs Jahren war meine Währung der Hyperlink. Ursprünglich aus der Idee des Hypertextes entstanden, ermöglichte der Hyperlink eine Vielfalt und Dezentralisierung, die es so in der realen Welt nicht gab. Der Hyperlink stand für den offenen und vernetzten Geist des World Wide Webs  – eine Vision, die mit seinem Erfinder Tim Berners-Lee began. Der Hyperlink war eine Möglichkeit, jegliche Zentralisierung – die Verbindungen, Linien, und Hierarchien – hinter sich zu lassen, und sie durch etwas Dezentrales zu ersetzen:  ein System aus Knoten und Netzwerken. …

Aber Hyperlinks sind nicht nur das Grundgerüst des Netzes: sie sind seine Augen, der Weg zu seiner Seele. Und eine blinde Website, eine ohne Hyperlinks, kann eine andere Website weder sehen noch betrachten. All das hat ernsthafte Konsequenzen für die Dynamik von Macht im Netz.

via Social Media: Das Internet, das wir bewahren müssen | ZEIT ONLINE.

Ich stimme Hossein zu, dass die Dominanz sozialer Medien das Lesen und Gelesen werden verändert haben. Jedoch darf man nicht übersehen, dass die sozialen Medien auch für eine andere Reichweite gesorgt haben, Leute im Netz ansprechen, die vorher nicht nach Blogs geschaut haben. Schauen die immer in die Tiefe? Nein, aber man kann sie zumindest theoretisch erreichen.

Der Stream bestimmt, wie Menschen an Informationen im Netz gelangen. Immer weniger Nutzer besuchen ausgewählte Websites direkt. Stattdessen werden sie von einem endlosen Informationsfluss gefüttert, der für sie aus komplexen  – und geheimen  – Algorithmen zusammengestellt wurde. …

Dank des Datenstroms brauchst du nicht mehr so viele Websites zu öffnen. Du benötigst nicht mehr so viele Tabs im Browserfenster. …

Die Algorithmen hinter dem Stream verwechseln nicht nur Neuheit und Popularität mit Relevanz. Sie zeigen uns auch immer mehr dessen, was uns jetzt schon gefällt. Diese Dienste erfassen unser Verhalten und passen unsere Newsfeeds, die Meldungen, Bilder und Videos ganz präzise an das an, was wir ihrer Ansicht nach mit größter Wahrscheinlichkeit sehen wollen. …

Der Stream ist die dominante Art der Informationsorganisation in den digitalen Medien. Er steckt in jedem sozialen Netzwerk, in jeder App. …

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Eine Analyse des Streams. Da schlage ich natürlich die Brücke auch ins Berufliche, wo wir den Stream – bei allen Herausforderungen – bewusst propagieren. Dort soll er die Arbeit erleichtern, da er alle notwendigen Informationen und Aufgaben (zumindest theoretisch) zusammenführt. Aber gibt es ihn überhaupt, den einen Stream? Derzeit kämpfen die meisten Anwender beruflich (und wohl auch privat) mit zu vielen Streams, zu vielen Kanälen, über die sie Informationen, Kommunikation und Aufgaben bekommen.

Schlimmer noch als beobachtet zu werden, ist es, kontrolliert zu werden. Wenn Facebook dich anhand von 150 Likes besser kennt als deine Eltern, und mit nur 300 Likes mehr weiß als dein Ehepartner, dann wird die Welt vorhersagbar, für Regierungen gleichermaßen wie für Unternehmen. Und Vorhersagbarkeit heißt Kontrolle. …

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Ein Kernsatz: Vorhersehbarkeit heisst Kontrolle. Vorhersehbarkeit kann Kontrolle heissen, kann aber auch helfen und Kontext herstellen. Auch hier denke ich natürlich wieder an die berufliche Arbeit, wo Predictive Analytics bei der Arbeit helfen kann. Und ja, Unternehmen wollen gerne voraussehen, was der Kunde als nächstes tun wird, was er mag und kauft. Die Linie zwischen dem gläsernen Webanwender, potentieller Manipulation und gewollter Arbeitserleichterung oder gewollten Empfehlungen ist extrem dünn.

In sozialen Netzwerken findet sich immer weniger Text zum Lesen, dafür umso mehr Videos und Bilder. Beobachten wir den Niedergang des Lesens zugunsten des Sehens und Hörens im Netz? …

Der Stream, mobile Apps und Bewegtbild, all das zeigt, dass wir uns von einem Bücherinternet hin zu einem Fernsehinternet bewegen. Wir scheinen uns von einer nicht-linearen Art der Kommunikation – Knoten, Netzwerke und Links – hin zu einer linearen mit Zentralisierung und Hierarchien bewegt zu haben. …

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Tja, der Trend weg vom Text hin zu kurzen multimedialen Informationsbruchstücken ist unübersehbar und auch wohl unaufhaltsam. Ich sehe auch an mir, dass ich (zumindest bei Fachartikeln) ellenlange Texte und Beiträge über x Seiten nicht mehr mag und eher knappere, präzise Texte mag, die online auch besser lesbar sind. Im Fernsehinternet bin ich noch nicht angekommen. Lesen ist für mich bequemer denn Hören und Sehen. Aber ich  bin ja auch quasi Silversurfer …

Und ja, lieber Hossein, das Netz sollte ein Netz bleiben, nicht immer vorhersehbar und kontrollierbar, etwas chaotisch, aber innovativ, für Überraschungen und Querverbindungen gut. Und da finde ich imme rnoch diesen Cartoon von Ute Hamelmann einfach treffend:

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