Manchmal sind es die einfachsten Sätze, die am meisten aussagen. „Es ist halt, wie es ist. Das ist jetzt ein Teil von mir. Ist nicht der Teil, der mich ausmacht, aber es ist jetzt ein Teil von mir“, sagt Andrea Martin in unserem Podcast #9vor9. Die IBM-Managerin, dien ich aus unserer gemeinsamenZeit bei Big Blue kenne, spricht über ihre Krebserkrankung – offen, reflektiert und ohne die Floskeln, die wir sonst zu diesem Thema hören. Ich habe dieses Gespräch inspiriert durch Andreas LinkedIn-Beitrag und ihr FAZ-Interview angestoßen. Im Gegensatz zu Andrea habe ich das Thema lange Jahre nicht öffentlich in der Firma oder darüber hinaus thematisiert.
Offen darüber reden oder schweigen?
Bewusst habe ich meine Erkrankung nur im kleinen Kreis gehalten. Es wussten nur – glaube ich – mein direkter Chef und einige gute Bekannte. Und natürlich die Familie. Diese Vorgehensweise liegt auch ein wenig in meinem Typ begründet, Dinge zuerst mit mir auszumachen, zu reflektieren und dann darüber zu sprechen. Andrea ging den umgekehrten Weg: „Warum soll ich es unter der Decke halten? Weil es beeinflusst natürlich schon so ein Stückchen, wie du arbeiten kannst.“
Andreas Beweggrund für die Offenheit war pragmatisch: „Ich wusste nicht, wie es mir damit gehen wird. … Und deshalb war es mir wichtig, das zumindest im Berufsleben öffentlich zu machen.“ Sie hat sich entschieden, von Anfang an offen zu sein. Ihre Kolleginnen und Kollegen sollten wissen: „Wenn ich nicht reagiere, liegt es an der Therapie, nicht an mir. Das war für mich wichtig, um Missverständnisse zu vermeiden.“
Auch wenn es manchmal schwierig war: „Du Arme.“ „Tapfer kämpfst du.“ – solche Sätze sind gut gemeint, aber unangebracht. Andrea: „Ich brauche kein Mitleid.“ Genau so sehe ich es auch. Die Grenze zwischen Mitleid und Mitgefühl ist halt sehr dünne. Beide Strategien haben ihre Berechtigung. Und beide zeigen, wie schwierig es ist, mit einer Krebsdiagnose im Arbeitsumfeld umzugehen. Genau das zeigt das Dilemma: Reden ist schwer, Schweigen auch.
Das Privileg der Digitalwirtschaft
Ein Punkt, der im Gespräch immer wieder aufkam: Wir beide arbeiten in der Digitalbranche – und sind uns bewusst, dass das ein Privileg ist.Bei uns bei der IBM war Homeoffice schon lange möglich, das ist Andrea und mir natürlich in der Krankheit oder in der Therapie als Patienten mit Immunschwäche zugute gekommen.
Andrea macht die Unterschiede noch deutlicher: „Wenn ich jetzt Bäckerin wäre oder auch Ärztin, dann wäre das nicht so einfach zu arbeiten. Dann habe ich da feste Schichten oder ich muss 4:00 Uhr in der Backstube stehen. Das würde ich nicht schaffen.“ Die Flexibilität, die ein Homeoffice-Job bietet, das man sich auch mal kurz auf dem Sofa ausruhen kann – das sind Luxusgüter, die nicht jede oder jeder hat.
Der unsichtbare Karriereknick
Trotz der Unterstützung durch meine direkten Vorgesetzten und trotz aller Flexibilität, die mir in meinem Job gewährt wird, bleibt ein unangenehmes Thema: Die Karriereaussichten ändern sich durch eine Krebsdiagnose – oft zum Nachteil. Ich habe deutlich gemerkt, dass manche Chancen nicht mehr an mich vergeben wurden, weil im Hinterkopf der Gedanke mitspielt: „Der ist doch krank.“ Dieses Stigma ist schwer wegzudiskutieren, gerade bei der Vergabe von Führungspositionen.
Andrea schildert ein ähnliches Bild aus zu Beginn ihrer Krankheit: „Da war die Organisation ein Stück weit seltsam – eher dazu geneigt, Leute abzuschreiben, als sie weiterhin zu unterstützen.“ Obwohl ihr damaliger Chef sehr hilfsbereit war, spürt sie eine strukturelle Haltung, die eher auf Sicherung als auf Förderung setzt. Und wenn Positionen gar nicht erst angeboten werden, obwohl man eigentlich qualifiziert wäre, dann ist das ein klares Zeichen von Benachteiligung. Doch das wird lieber verschwiegen oder bagatellisiert.
Hinzu kommt ein weiteres, häufig unterschätztes Thema: Ageism, Altersdiskriminierung. Nicht selten vermischen sich Vorurteile gegen ältere Mitarbeitende mit denen gegen chronisch Erkrankte. Es herrscht eine latente Haltung, dass jemand „zu alt“ oder „zu krank“ sei, um anspruchsvolle Aufgaben zu übernehmen. Dieses Zusammenspiel von Vorannahmen erschwert es, wirklich faire Chancen auf anspruchsvolle Jobs, Projekte oder gar Führungsrollen zu erhalten. Es ist nicht nur eine Frage der Leistung, sondern auch der gesellschaftlichen Vorurteile, die in Unternehmen wirksam sind.
Beide haben wir inzwischen einen gelasseneren Blick darauf entwickelt. „Wir sind beide in einem Stadium im Berufsleben, wo wir sagen, ist halt so, ist okay“, reflektiert Andrea. Bei jüngeren Betroffenen sieht das anders aus: „Wenn das dich dann mit 30 oder früher erwischt, ist das noch mal eine andere Situation.“
Die Kunst des richtigen Umgangs
Am schwierigsten ist oft der zwischenmenschliche Umgang. Andrea beschreibt die verschiedenen Reaktionen ihrer Kollegen: „Es gab Kollegen, die haben gesagt: ‚Mensch, das ist jetzt Mist, aber ich gehe weiterhin genauso mit dir wie vorher‘, und andere, die sich dann eher nicht getraut haben zu fragen, wie es mir geht.“
Meine Erfahrung war anders, weil ich eben nicht offen in der Firma über meine Krankheit gesprochen habe. So wurden die Fragen nicht gestellt, weil ich selbst nicht drüber geredet habe – auch wenn man beispielsweise an meinen Haaren sehen konnte, was los war. Aber natürlich habe ich auch eine Veränderung im Umfeld beobachtet. In den Augen der Vorgesetzten stand schon manchmal die Frage: „Was kann der noch leisten? Was will der noch leisten?“
Gegen das Urteil über andere
Andreas wichtigste Botschaft ist einfach und doch schwer umsetzbar: „Nicht urteilen über den anderen oder die andere.“ Sie erzählt die Geschichte einer krebskranken Freundin, die ihren Kühlschrank wusch, während andere dachten: „Wie bekloppt? Die ist doch krank, die hat doch jetzt andere Prioritäten.“ Erst als Andrea selbst erkrankte, verstand sie: „Als ich dann selber wieder fit genug war, das zu machen, habe ich gemerkt, wie wichtig das für mich ist, weil das Alltag ist und das zeigt dir, ich bewältige meinen Alltag.“
Die Lehre daraus? „Lass mich halt mein Ding machen und auch wenn du es nicht verstehst.“ Statt Urteile zu fällen, sollten Führungskräfte fragen: Guck mal , diese Chance gibt es für dich. Willst du die oder willst du die nicht? Traust du dir das zu oder traust du dir das nicht zu?
Die Perspektive ändert sich
Beide berichten wir von einem inneren Wandel durch die Krankheit. Durch die Krankheit findet schon ein Umdenken persönlich statt. Man positioniert oder setzt schon die Gewichte dann ein bisschen anders. Für mich war es ein starker Lernfaktor, weil ich vorher zu viel in den Beruf und die Arbeit investiert habe.
Diese veränderte Perspektive bringt auch Vorteile mit sich: „Wenn man halt eine Krankheit, entweder gerade mittendrin ist, sie zu überwinden oder sie überwunden hat, geht man vielleicht auch mit Stress am Arbeitsplatz anders um“, mutmaßt Lars.
Nischen schaffen
Ich habe für mich „kleine Wohlfühlnischen“ gefunden – wie beispielsweise diesen Podcast. Diese kleinen Nischen, die man sich auch selbst schafft, sind extrem wichtig. Andrea ergänzt einen wichtigen Punkt: „Das, was du sagst, mit dem ’sich die Nischen schaffen‘, von den Dingen, die einen wirklich erfüllen und auch wieder selber vielleicht Stärke geben oder Energie geben. Das gilt ja prinzipiell in Krankheit und in Gesundheit.“
Was bleibt
Am Ende steht eine einfache Erkenntnis: Der Umgang mit Krebs am Arbeitsplatz ist möglich – aber er erfordert Offenheit auf beiden Seiten, Flexibilität von den Arbeitgebern und vor allem: weniger Urteile, mehr Fragen. Andreas Schlüsselsatz „Ich bin mehr als meine Krankheit“ sollte eigentlich selbstverständlich sein. Dass er es nicht ist, zeigt, wie viel Arbeit noch vor uns liegt. Aber Gespräche wie dieses sind ein Anfang.
„Wir dürfen noch dankbar sein“, sage ich im Podcast mit Blick auf unsere privilegierte Situation in der Digitalbranche. Diese Dankbarkeit sollte Verpflichtung sein – für mehr Verständnis, bessere Strukturen und einen offeneren Umgang mit dem Thema Krankheit am Arbeitsplatz. Unser besonderer Dank – der von Lars und mir – geht natürlich an Andrea, die wir ja schon lange kennen und schätzen. Und an dieser Stelle möchte ich mich ausdrücklich bei Lars für seine einfühlsame Moderation bedanken.


Kommentar verfassen