Rammlerschau

Lokaljournalismus in der Krise: Wie der Bedeutungsverlust sich auf die Gesellschaft auswirkt

9vor9 breit

Helmut, der Fußgänger, so hieß die Kolumne des Chefs der Lokalredaktion der Wetzlarer Neuen Zeitung, bei der ich vor mehr als 40 Jahren meines ersten journalistischen Erfahrungen machen durfte. Auch an seinen Vertreter, „Schorsch“ Waldschmidt erinnere ich mich noch, dessen größte Passion das Testen von Autos war. Beide mochten keine „studierenden“ Journalisten, ließen es mich auch spüren, aber haben mich dann als billigen „festen Freien“ akzeptiert, der für seine Beiträge Zeilengeld und einige Mark für Fotos bekam. So habe ich Journalismus als Lokalberichterstatter von der Pike auf gelernt. Und die Rolle des Lokaljournalismus in der heutigen Zeit ist auch unser Thema bei .

Karnickelzuchtschau, Fassnacht, 90er Geburtstag, aber auch Lokalpolitik

Auch Lars hat seine Erfahrungen in der Lokalredaktion Altenkirchen im Westerwald gesammelt. Beide träumen wir also noch von 90. Geburtstagen, von Feuerwehrübungen, von Jahreshauptversammlungen, des zahllosen Fassnachtssitzungen und der besonders beliebten Karnickelzuchtschau, auf der der Rammler des Jahres gekürt wurde. Dieses Motiv musste dann auch logischerweise als Titel- und Hintergrundbild für diese Folge und diesen Beitrag herhalten.

„Bläddle gegen Rechtspopulismus?!“

Doch nicht der mehr oder weniger melancholische Rückblick gab den Auslöser für unser Gespräch. Anlass war die Masterarbeit von Maxim Flößer, die unter dem Titel „Bläddle gegen Rechtspopulismus? Einfluss von Lokalzeitungen auf den Stimmenanteil der Alternative für Deutschland bei der Landtagswahl 2021 in Baden-Württemberg“ vorgelegt wurde. Das Ergebnis seiner Arbeit: Dort, wo es eine Lokalzeitung gibt, bekommt die AfD weniger Stimmen.

Die große Erkenntnis: Selbst unter Bezugnahme weiterer Einflüsse wie Arbeitslosigkeit, Migrationsanteil in den Gemeinden, Männer-Frauen-Verhältnis und so weiter bleibt der Effekt der Präsenz einer Lokalzeitung bestehen. Gemeinden mit mindestens einer Lokalzeitung stimmten immer noch durchschnittlich um 0,6 Prozentpunkte weniger für die AfD.

Quelle: Medienstudie: Keine Lokalzeitung – mehr AfD – Ausgabe 675

Lokaljournalismus hat Einfluss auf das Wahlverhalten. Das hat man auch bei Wahlen in den USA feststellen können. Eine Reihe von Studien aus den USA zeigen alarmierende Auswirkungen eines Mangels an Lokaljournalismus: Wenn keine Lokalzeitung vorhanden ist, bleibt den Bürgern ein tieferes Verständnis für lokale Politik und eine stärkere Bindung zu ihrer Gemeinschaft und Gesellschaft verwehrt. Dieses Wissensdefizit kann zu einer weit verbreiteten Unzufriedenheit führen, welche sich dann in der politischen Landschaft in Form von Unterstützung extremer Kandidaten und Parteien manifestiert.

Informieren, integrieren, emotional verbinden

Wir sind uns einig, dass diese Aussagen einleuchten, da der Lokaljournalismus die Bevölkerung informiert über und involviert in lokale Fragestellungen. Hinzu kommt auch ein emotionale Integration und Bindung. Mit anderen Worten, der Lokaljournalismus schafft in gewissem Maße eine Verbindung mit der Gemeinschaft und reflektiert das lokale Leben.

Anzeigeneinnahmen sind weg gebrochen …

Jedoch ist nicht weg zu diskutieren, dass lokale Medien seit Jahren mit Auflagenverlust, damit einhergehend mit Bedeutungsverlust zu kämpfen haben. Die durchschnittliche Auflage der lokalen und regionalen Abonnementzeitungen in Deutschland ist von 18,1 Millionen in 1992 auf 8,89 Millionen 2023 zurückgegangen, so Statista. Parallel dazu haben die Anzeigeneinnahmen signifikant abgenommen, da die Handelskonzentration von Rewe, Aldi und Konsorten sowie der Onlinehandel auch den Geschäften vor Ort in der Region Einnahmen weggenommen haben, so dass viele eben nicht mehr in Anzeigen und Beilagen investieren konnten. Schätzungen gehen davon aus, dass Regionalzeitungen zwischen einem Viertel und der Hälfte ihres Umsatzes durch Digitalisierung und Handel verloren haben.

… und wie erreicht man die jungen Leute?

Hinzu kommen Akzeptanzproblemen bei den jüngeren Generationen, die sich oft nicht mehr über Lokalzeitungen oder lokale Medien informieren, sondern stattdessen auf Social Media-Kanäle setzen. Laut ARD/ZDF-Online-Studie 2023 sind neun von zehn Menschen unter 30 Jahren regelmäßig (im Sinne von wöchentlich oder täglich) in Sozialen Medien unterwegs. Bei den Älteren nimmt die Nutzung je nach Alter deutlich ab. Laut Studie waren 63 % der 14 bis 29-Jährigen auf Instagram unterwegs. Danach folgen SnapChat (37 Prozent), TikTok (30 Prozent) und Facebook 20 Prozent, abnehmend.

In Anbetracht der sinkenden Auflagen von Lokalzeitungen und der Herausforderung, junge Menschen für lokale Nachrichten zu interessieren, bleibt die Frage, wie die Zukunft des Lokaljournalismus aussehen kann und wird. Wir sind uns einig, dass eine Berichterstattung über lokale Belange nach wie vor von Bedeutung ist. Es geht darum, herauszufinden, wie und in welchen Formaten diese auf eine Weise geliefert werden kann, die sowohl die Älteren als auch die jüngeren Generationen anspricht und ihre Bereitschaft, dafür zu zahlen, erhöht.

Neues Selbstverständnis, andere Finanzierung notwendig

Und hier müssen wir uns an die eigene Nase fassen. Weder Lars noch ich haben die jeweiligen Regional- oder Lokalzeitungen abonniert. Kosten spielen dabei sicher eine Rolle. Dabei sind mir persönlich nicht einmal die Abokosten entscheidend. Ich bin bereit für einzelne Artikel, die mich interessieren, angemessen zu zahlen, aber nicht …

„Dieser Gedanke, dass … eine gedruckte Zeitung, die einen generalistischen Informationsanspruch hat und immer nur als Ganzes zum Beispiel verkauft werden kann, dieser Gedanke erscheint mindestens den Generationen, die schon mit starken individualisierten Digitalangeboten großgeworden sind, einigermaßen abstrus oder auch absurd. Warum soll ich sozusagen ein Abo bezahlen für ein Produkt, von dem mich am Ende vielleicht ein Drittel wirklich interessiert?“

fragt Journalistikprofessorin Wiebke Möhring 2019 korrekterweise.

Auch sind Lars und ich wohl nicht in dem Maße in das lokale Leben und die Lokalpolitik involviert, als dass uns die all umfassende Lokalberichterstattung – ob gedruckt oder online – wertvoll für unseren Informationskonsum erscheint. Und das, obwohl wir beide in hohem Maße Informationen konsumieren und verwerten. Der gelieferte Informationsmehrwert genügt uns beiden offensichtlich nicht.

Wir werden uns sicher einmal mit dem Thema Finanzierung von Lokaljournalismus beschäftigen. Aber schon jetzt ist klar: Der Lokaljournalismus hat einen unbestreitbaren Wert – sowohl für die Gemeinschaft als auch für die Entwicklung des journalistischen Handwerks. Und in einer Zeit der Informationsflut und Desinformation kann er eine notwendige Brücke zwischen den Menschen und den Ereignissen in ihrer unmittelbaren Umgebung schlagen.

„Lokalzeitungen bilden ein Band, das die demokratische Gesellschaft zusammenhält“

Zum Abschluss noch ein Zitat von Maxim Flößer:

Was lässt sich also daraus schließen? Lokalzeitungen bilden ein Band, das die demokratische Gesellschaft zusammenhält. Sie haben einen Einfluss darauf, wie stark die AfD bei Wahlen abschneidet. … Für eine offene und liberale Demokratie sind freie Medien und insbesondere lokale Medien wie Lokalzeitungen entscheidend.

Quelle: Medienstudie: Keine Lokalzeitung – mehr AfD – Ausgabe 675

Für diese Ausgabe von konnte ich mir nicht verkneifen, den Bericht von der Karnickelzuchtschau als Motiv von ideagram.ai erstellen zu lassen. Der Prompt lautete: In the style of the 1980s, create a photo of a male local journalist with a camera and notepad attending an event organized by the rabbit breeding club, where the most beautiful rabbit is awarded a prize., photo, cinematic. Unten noch ein weiteres Bild, dass mir sehr gefallen hat.

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