Radikale Schreihälse einerseits, Rückzug ins Private andererseits

Strukturwandel der Öffentlichkeit, so heißt der Klassiker von Jürgen Habermas, mit dem ich mich im Studium intensiv auseinandergesetzt habe. Das Thema Öffentlichkeit – wie entsteht Öffentlichkeit und was trägt zur politischen Meinungsbildung bei – ist seitdem geblieben. Immer wieder stoße ich auch heute noch auf interessante Beiträge und mache diesen Themenkomplex deshalb zum Schwerpunkt meines Wochenschau. So beschäftigt sich Jörg Thomann in der FAZ mit dem Thema Mehrheit und einer kolportierten Mehrheitsmeinung, ein Begriff, der gerne von vielen Politikern vereinnahmt wird.

Radikale Minderheiten brüllen in den sozialen Medien

Und es gibt schon lange den Begriff der schweigenden Mehrheit, doch gewinnt man heutzutage eher den Eindruck, dass immer mehr laute Minderheiten Gehör zu finden versuchen und auch teilweise finden:

Im Zeitalter der sozialen Medien allerdings ließe sich dem eine Kreisch- oder Brüllspirale entgegenstellen, die praktisch jede radikale Minderheitenansicht, egal wie absurd und amoralisch, mehrheitstauglich wirken lässt. In stummer Ohnmacht schweigen muss hier niemand mehr, in völliger Enthemmung wird retweetet, geliked und kommentiert, und wenn der einheimische Furor nicht ausreicht, besorgen russische Bots den Rest.

Wenn Politiker verallgemeinern: Was die schweigende Mehrheit möchte (faz.net) – (Paywall)

Vor allem nutzen Radikale wesentlich geschickter und intensiver die soziale Medien, um mit ihren plumpen Sprüchen gerade auch junge Leute abzuholen. Die AfD setzt in den sozialen Medien auf eine offensive Strategie, die offenbar aufgeht:

Bundesweit hat die AfD auf Facebook mehr als doppelt so viele Anhänger als die anderen Parteien. Ihre Memes schnurren nur so durch die Timelines, sie bekommen Likes, mobilisieren, sammeln Follower.

Warum Politiker auch auf Tiktok sein müssen (faz.net) (Paywall)

Eine Studie der Universität Köln zeigt, dass sie gerade junge Männer mit ihren platten Aussagen „abholen“:

Als die AfD den 46 Jahre alten Maximilian Krah zu ihrem Spitzenkandidaten für die Europawahl kürte, kursierte kurz darauf ein Tiktok-Video des Politikers im Internet. Krah wendet sich darin an junge Männer, die noch nie eine Freundin gehabt haben. Sein Rat an sie: keine Pornos schauen, nicht die Grünen wählen, selbstbewusst und stark sein. „Echte Männer sind rechts“, mahnt Krah gegen Ende des Videos. Wer das verinnerliche, habe auch bessere Chancen bei Frauen.

Gender Gap in der Politik: Junge Männer wählen rechts, Frauen links (faz.net ) (Paywall)

Provokationen werden von Algorithmen durch hohe Interaktionsraten belohnt. Doch die anderen Parteien dürfen die sozialen Medien nicht den Spinnern und Provokateuren überlassen. Sie müssen dagegen halten und „Spokes People“ in ihren eigenen Reihen finden, die eben nicht die Nase über TikTok, Instagram und Co rümpfen und mit Charisma und klaren Botschaften das Publikum ansprechen.

Kommunikation und wodurch und womit sich öffentliche Meinung gemacht wird hat sich immer wieder verändert: Im 19. Jahrhundert war der Durchbruch gedruckte Zeitungen in Deutschland, später kamen Radio und danach Fernsehen, heute beeinflussen soziale Medien die Meinung. Nur zu oft haben gerade radikale Parteien zuerst die neuen Möglichkeiten verstanden und genutzt. Wenn die etablierten Parteien und ihre Politikerinnen und Politiker überleben wollen, müssen sie auch auf die jetzigen Herausforderungen reagieren und gegen halten, gerade auch um die Spinner und deren Sprüche zu entlarven.

Globale Krisen verdrängen – Rückzug ins Private

Das ist nur eine Aspekt der aktuellen Problematik. Wir haben die rechten Schreihälse auf der einen Seite. Aber es gibt auch viele, die sich in ihren privaten Raum zurückziehen, wie gerade eine tiefenpsychologische Studie und repräsentative Befragung des Rheingold Instituts belegt. Globale Krisen und ein Mißtrauen gegenüber „der Politik“ und der Regierung sind Ursachen für diesen Trend.

Lediglich die für den persönlichen Alltag relevanten Themen wie Inflation, die Energiekrise oder die zunehmende Entzweiung der Gesellschaft kommen noch in die Wahrnehmung. Die Bereitschaft viele Bürger sich über die Nachrichtenlage zu informieren, lässt nach. Nur 39 Prozent sagen, dass sie sich noch ausführlich über das Weltgeschehen informieren, während 31 Prozent die Konzentration auf das eigene Leben als wichtiger empfinden als Politik und Nachrichten.

Seelenzustand: Warum viele Deutsche auf der Flucht vor der Wirklichkeit sind – planung&analyse (horizont.net)

Die einen brüllen lautstark herum und verbreiten abstruse Aussagen und Ideologien. Die anderen kümmern sich nur um das, was sie direkt betrifft und reagieren maximal bei Themen beziehungsweise Reizworten wie Wärmepumpe. Globale Krisen wie Klimawandel oder Globalisierung werden eher verdrängt. Gemeinsam haben beide Gruppierungen eine Ablehnung der alten Parteien und Politikerinnen und Politiker. Doch ist davon auszugehen, dass es durchaus Schnittmengen zwischen beiden Gruppen gibt.

Reagieren, bevor es in Deutschland wieder zu spät ist

Die Situation ist bedenklich, gerade auch wenn man die Wahlprognosen liest, in denen potentiell jeder fünfte Wähler für eine AfD stimmen würde. Oft gewinne ich den Eindruck, dass die etablierten Parteien und ihre Führungskräfte die Situation noch nicht ernst genug nehmen, vielleicht zu spät aufwachen, Brandmauern nur zu schnell zu zerbröseln und man glaubt, radikale Spinner einhegen zu können. So etwas hatten wir in Deutschland schon einmal und braucht sich nur zu erinnern, wo das geendet hat.

Das Titelbild wurde mit der KI Dall-E erstellt und soll Teile des Inhalts dieses Beitrags widerspiegeln: Eine Gruppe zieht sich ins Private zurück, Radikale brüllen laut in den sozialen Medien, andere drehen“der Politik“ den Rücken zu.

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